Polnische Ostgebiete? – Teil 3
Die hier geäußerten Gedanken zum „allpolnischen Territorialprogramm“ im Rahmen der Artikelserie zu den „polnischen Ostgebieten“ sind dem 7. Kapitel des Buches „Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges“ von Roland Gehrke entnommen. Bei diesem gut zu lesenden, informativen und aufschlussreichen Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation Gehrkes von 1999 im Fachbereich Geschichte an der Universität Hamburg.
In den 80er Jahren des 19. Jh. – in der staatenlosen Zeit Polens – wurde die territoriale Gestalt eines künftigen polnischen Staatswesens mit zunehmender Intensität geführt. Besonders taten sich dabei Jan Ludwik Popławski (1854-1908) und Bolesław Wysłouch (1855-1937) hervor, anfangs mit sehr ähnlichen politischen Ideen. Der Vordenker der polnischen Bauernbewegung, Bolesław Wysłouch, skizzierte einen volkstümlichen, ethnisch reinen, nationalen Sozialismus (!), der sich analog zu Popławski im Wesentlichen auf die Bauernschaft stützen sollte. Unter der Leitung Popławskis erschien seit 1886 in Warschau die Wochenzeitung „Głos“ (Die Stimme), an die die polnischen Nationaldemokraten unter Roman Dmowski (1864-1939) mit ihrem „Przegląd Wszechpolski“ (Allpolnische Umschau) anknüpften.
Dass im stark fragmentierten Ostmitteleuropa ethnisch „saubere“ Grenzen zwischen den einzelnen Nationalitäten kaum zu ziehen waren, war ihm [Wysłouch] dabei wohl bewusst, der Absonderung fremder Volksgruppen durch die Grenzziehung gab er aber allemal den Vorzug vor der Gewährung von Minderheitenrechte an sie.2)Buch: Gehrke, Roland: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges, Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Materialien und Studien zur Ostmitteleuropaforschung, Verlag Herder-Institut, Marburg, 2001, 192.
Popławski schwebte ein weit nach Osten reichender polnischer Großstaat vor, wobei er Litauen, Weißrussland und die Ukraine als legitimes „politisches Eigentum“ und „historisches Erbe“ Polens betrachtete. Polen seien in diesen Gebieten zwar eindeutig in der Minderheit (gemäß Popławski nur 20%; vgl. J.L.Popławski, Nasze stanowisko na Litwie i Russi [Unsere Stellung in Litauen und Ruthenien], in: „Przegląd Wszechpolski“ 1896, Nr. 8, S. 170f.), doch seien sie zivilisatorisch vorherrschend und prägend!
Dieses Prinzip der ökonomischen und kulturellen Dominanz erkannten jedoch weder Popławski noch der Nationaldemokrat Dmowski für Oberschlesien und Masuren an, wo die jahrhundertelange Prägung durch die deutsche Kultur und Zivilisation nicht in Abrede zu stellen war. Der „Schlüssel“ für diesen Widerspruch liegt in einem an keine übergeordnete Moral gebundenen „nationalen Egoismus“, der von den nationalistischen Kräften Polens als oberste Handlungsmaxime propagiert wurde. Popławski selbst formulierte seine entsprechende Vorstellungen im Przegląd Wszechpolski mit entwaffnender Offenheit:
Jede Politik – ob nun preußisch oder polnisch – ist in ihren Beziehungen zu anderen Nationalitäten von räuberischer Natur (zaborczy), sie muss immer nach der Eroberung neuer oder der Wiedergewinnung verlorener Territorien streben.J.L.Popławski: Polityka polska w zaborze pruskim [Die polnische Politik im preußischen Teilgebiet], in: „Przegląd Wszechpolski“ 1899, Nr. 1, S.2, zitiert nach: Gehrke, Westgedanke, 197.
In diesem „räuberischen Sinne“ spielten die „Westgebiete“ (d.h. das historische Ostdeutschland) im „allpolnischen“ Territorialprogramm der Nationalisten stets die Hauptrolle.
Weiterführende Hinweise
Potsblits: [cref polnische-ostgebiete-1]
Potsblits: [cref polnische-ostgebiete-2]
Quellen
↑1 | Bildquelle: Anonymus. Gefunden auf Wikimedia Commons, Lizenz: Public Domain |
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↑2 | Buch: Gehrke, Roland: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges, Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Materialien und Studien zur Ostmitteleuropaforschung, Verlag Herder-Institut, Marburg, 2001, 192. |