Putin in Polen

Russlands Premierminister Wladimir Putin veröffentlichte für die polnische Zeitung „Gazeta Wyborcza“ am vergangenen Montag einen langen Artikel, in dem er den Hitler-Stalin-Pakt als unmoralisch bezeichnet. Gleichzeitig betont er jedoch auch, dass dieser Pakt nur einer unter vielen Absprachen darstellt, die zu jener Zeit verschiedene Länder mit den Nazis eingingen. Darunter z.B. auch die Tatsache, dass die polnische Armee gemeinsam mit deutschen Truppen in die Tschechoslowakei einmarschiert war. Unerwähnt bleibt in Putins historischen Ausführungen, dass das Zusatzprotokoll zu dem Pakt Europa zwischen Hitler und Stalin aufteilte. Der Text, den Potsblits ins Deutsche übersetzt hat, muss auch auf dem Hintergrund der evtl. noch möglichen Stationierung von US-amerikanischen Abfangraketen auf polnischem und tschechischem Boden gelesen werden.

Artikel Putins in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza1)Artikel Wladimir Putins in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, URL: http://premier.gov.ru/eng/events/3514.html (Übersetzung durch Potsblits) – abgerufen am 1.09.2009:

Wir sind schon siebzig Jahre entfernt von der Tragödie, die an einem dunklen Tag der Geschichte der Zivilisation sich ereignete – der 1. September 1939 – der Ausbruch des verheerendsten und mörderischsten Krieg, den Europa und die gesamte Menschheit jemals durchlebt haben.

Eingeladen vom polnischen Premierminister, Donald Tusk, an der Gedächtnisfeier des 70. Jahrestags des Zweiten Weltkriegs teilzunehmen, habe ich nicht gezögert, die Einladung anzunehmen, ich konnte gar nicht anders: denn der Krieg forderte sein schreckliches Tribut an 27 Millionen Leben meiner Landsleute, und jede russische Familie bewahrt beides, die Trauer um den Verlust und die Ehre des Großen Siegs, während jede nachfolgende Generation den Stolz auf ihrer Väter und Großväter Kampf im Schlachtfeld übernimmt; denn Russland und Polen waren Alliierte in diesem gerechten Kampf. Und wir – die heute lebenden Menschen – sollten moralisch genug sein, vor den Gefallenen unsere Köpfe zu neigen und den Mut und die Entschlossenheit der Menschen verschiedener Länder zu preisen, die die Nazis bekämpft und letztendlich zerschmettert haben.

Das Zwanzigste Jahrhundert fügte tiefe, nicht-heilende Wunden zu – Revolutionen, Putsche, zwei Weltkriege, die Nazi-Besatzung des Großteils Europas und die Holocaust-Tragödie, genauso wie die ideologische Trennung des Kontinents. Jedoch bewahrt das europäische Gedächtnis auch den siegreichen Mai 1945, den Helsinki-Prozess, den Fall der Berliner Mauer, die gewaltigen demokratischen Umbrüche in der Sowjetunion und in Osteuropa zu Beginn der 90er Jahren.

Alles oben Genannte sind Elemente unserer inhärenten, gemeinsamen Geschichte. Kein Richter kann ein vollkommenes, unparteiisches Urteil über das was in der Vergangenheit war abgeben. Und kein Land kann sich rühmen, Tragödien, dramatische Wenden, oder staatliche Entscheidungen, die nichts mit hoher Moral zu tun haben, vermieden zu haben. Wenn wir bestrebt sind, eine friedliche und glückliche Zukunft zu haben, müssen wir aus der Geschichte lernen. Indessen, die Ausbeutung der Erinnerung, die Anatomisierung der Geschichte und die Suche nach Vorwänden für gegenseitige Vorwürfe und Missgunst verursacht viel Unheil und beweisen einen Mangel an Verantwortung.

Halb-Wahrheiten sind immer eine Täuschung. Die vergangenen Tragödien – nicht völlig verstanden oder in einer unaufrichtigen oder heuchlerischen Weise interpretiert – führen unvermeidlich zu neuen historischen und politischen Phobien, die in einem Zusammenprall von Staaten und Völkern münden und die das öffentliche Bewusstsein beeinflussen, indem es zugunsten unfairer Politiker verzerrt wird.

Die Leinwand der Geschichte ist keine drittklassige Kopie, die grob retuschiert werden könnte, den Kundenwünschen folgend, indem sie durch das Hinzufügen von hellen oder dunklen Tönungen modifiziert wird. Unglücklicherweise sind heutzutage solche Versuche, die Vergangenheit aufzupolieren, ziemlich verbreitet. Wir erleben die Bemühungen, die Geschichte nach den unmittelbaren, politischen Erfordernissen zurechtzuzimmern. Einige Länder gingen sogar noch weiter, indem sie Nazi-Kollaborateure zu Helden stilisierten, indem sie Opfer den Täter gleichstellen und Befreier den Besatzer.

Einzelne Zwischenfälle werden aus dem allgemeinen historischen Hintergrund, dem politischen und ökonomischen Kontext oder militärischen und strategischen Erwägungen herausgelöst. Die Situation in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg wird fragmentarisch, unbeachtet der Ursache-Folge-Beziehung bedacht. Es ist bezeichnend, dass Geschichte oftmals von denen verbogen wird, die in moderner Politik eine Doppelmoral anwenden.

Man kann sich nur fragen, bis zu welchem Ausmaß sich diese Mythen-Produzenten von den Autoren des denkwürdigen „Kurzlehrgangs der russischen Geschichte“ unterscheiden, in der Stalin-Zeit veröffentlicht, in dem alle unbequemen Namen und Ereignisse von dem „Führer aller Nationen“ getilgt wurden und stereotypisierte und vollständig ideologische Versionen der Realität aufgetischt wurden.

Derart wird von uns heute erwartet, dass wir ohne Zögern eingestehen, dass der einzige Auslöser des Zweiten Weltkriegs der sowjetisch-deutsche Nicht-Angriffspakt vom 23. August 1939 war. Allerdings vernachlässigen jene, die eine solche Ansicht verfechten, einfache Dinge – hatte nicht der Versailler Vertrag, welcher das Resultat des Ersten Weltkriegs darstellte, einige „Zeitbomben“ zurückgelassen, darunter hauptsächlich nicht nur den Sieg über Deutschland festzustellen, sondern auch seine Demütigung. Hatten nicht bereits die Grenzen Europas viel früher als der 1. September 1939 begonnen zu bröckeln? Was ist mit dem Anschluss Österreichs und der Zersplitterung der Tschechoslowakei, als nicht nur Deutschland, sondern tatsächlich auch Ungarn und Polen an der territorialen Aufteilung Europas teilnahmen. Genau an dem Tag, als das Münchner Abkommen beschlossen wurde, sandte Polen sein Ultimatum an die Tschechoslowakei und seine Armeen drangen gleichzeitig mit den deutschen Truppen in die Regionen Cieszyn und Freistadt ein.

Und ist es denn möglich zu ignorieren, zum einen die Versuche der westlichen Demokratien hinter den Kulissen, Hitler „zu kaufen“ und seine Aggression „nach Osten“ zu lenken und zum anderen die systematische und allgemein tolerierte Aufhebung von Sicherheitsmaßnahmen und Waffenbeschränkungen in Europa?

Was war schließlich das militärische und politische Echo zu der Absprache in München am 29. September 1938? Vielleicht war dies der Zeitpunkt, als Hitler endgültig entschied, dass „alles erlaubt ist“. Dass weder Frankreich noch England einen “Finger krumm machten”, um ihre Alliierten zu verteidigen. „Der seltsame Krieg“ an der westlichen Front und das tragische Schicksal Polens, das ohne Hilfe gelassen wurde, demonstrierten, bedauerlicherweise, dass seine Hoffnung erfüllt worden waren.

Es gibt keinen Zweifel, dass man alle Grund dazu hat, den Molotov-Ribbentrop-Pakt, der im August 1939 geschlossen wurde, zu verurteilen. Ein Jahr zuvor jedoch unterzeichneten Frankreich und England einen allseits bekannten Vertrag mit Hitler in München und zerstörten so alle Hoffnung auf eine geeinte Front, um den Faschismus zu bekämpfen.

Heute wissen wir, dass alle Arten von Absprachen mit dem Naziregime moralisch nicht zu akzeptieren waren und keine Aussicht auf praktische Verwirklichung hatten. Indessen, im Kontext der historischen Ereignisse jener Zeit verblieb die Sowjetunion nicht nur Auge in Auge mit Deutschland (nachdem die westlichen Staaten das vorgeschlagene System der allgemeinen Sicherheit zurückgewiesen hatten), sondern sah sich auch mit der Bedrohung konfrontiert, einen Krieg an zwei Fronten führen zu müssen, denn genau im August 1939 erreichte der Konflikt mit Japan am Halkin-Gol Fluss seinen Höhepunkt.

Die Sowjet-Diplomtie lag zu jener Zeit richtig, Deutschlands Vorschlag einen Nicht-Angriffs-Pakt zu unterzeichnen, zu erwägen oder zumindest wäre es unklug gewesen, ihn abzulehnen, als die potentiellen Alliierten der UdSSR im Westen bereits ähnliche Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich getroffen hatten und nicht mit der Sowjetunion kooperieren wollten, genauso wie alleine mit der allmächtigen Nazi-Militärmaschine konfrontiert zu sein.

Ich glaube es war das Münchner Abkommen, das zur Uneinigkeit zwischen den natürlichen Alliierten im Kampf gegen die Nazis führte und sie veranlasste, sich gegenseitig zu misstrauen und zu verdächtigen. Während wir in die Vergangenheit schauen ist es für uns alle, in West- und in Osteuropa, notwendig, in Erinnerung zu rufen, welche Tragödien sich aus Feigheit, Hinter-den-Kulissen- und Lehnstuhl-Politik ergeben können, genauso wie aus der Suche nach Sicherheit und nationale Interessen auf Kosten anderer.

Aus meiner Sicht ist der moralische Aspekt der verfolgten Politik von besonderer Wichtigkeit. In dieser Hinsicht möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass das Parlament unseres Landes unzweideutig die Unmoralität des Molotov-Ribbentrop-Paktes festgestellt hat. Dies ist in manchen anderen Staaten bislang nicht der Fall, obwohl sie auch sehr kontroverse Entscheidungen in den 30er Jahren getroffen hatten.

Und da gibt es noch eine andere Lehre aus der Geschichte zu ziehen. Die ganze Erfahrung aus der Vorkriegszeit – von der Versailler Friedenskonferenz bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs – liefert den starken Beweis, dass es unmöglich ist, ein wirksames, allgemeines Sicherheitssystem zu errichten, ohne alle Länder des Kontinents einzubeziehen – einschließlich Russland.

Ich bin sicher, dass Europa fähig ist, eine gemeinsame, unparteiische Einschätzung unserer gemeinsamen tragischen Vergangenheit zu liefern und die Wiederholung derselben Fehler zu vermeiden. Deshalb können wir durch die Tatsache ermutigt sein, dass im Mai die internationale Geschichtskonferenz in Warschau mit der Beteiligung vieler russischer, polnischer und deutscher Historiker abgehalten wurde, die viele ausgewogene und unparteiische Einschätzungen der Ursachen des Zweiten Weltkriegs geliefert hatte.

Für die Menschen der Sowjetunion, Polens und anderer Länder war es ein Krieg, der um das Überleben geführt wurde, für das Recht auf die eigenen Kultur, Sprache und die Zukunft selbst. Wir erinnern uns all jener, die zusammen mit dem sowjetischen Volk gekämpft hatten. Wir erinnern uns der Polen, die die Ersten waren, die dem Aggressor Widerstand leisteten, indem sie im September 1939 mutig Warschau und die Befestigungen auf der Westerplatte verteidigten und anschließend in den Reihen der Anders-Armee, der Polnischen Armee, Truppen der Kraivo-Armee und der Volksarmee. Wir erinnern uns der Amerikaner, der Briten, Franzosen, Kanadier und andere Kämpfer an der Zweiten Front, die Westeuropa befreiten. Wir erinnern uns der Deutschen, die Repressionen nicht fürchteten und Hitlers Regime Widerstand boten.

Die Errichtung der Anti-Hitler-Koalition stellt, ohne Übertreibung, eine Wende in der Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts dar, eines der wichtigsten und entschiedensten Ereignisse des vorigen Jahrhunderts. Die Welt sah, dass die Länder und Völker, trotz aller Unterschiede, verschiedenem nationalen Streben und taktischen Uneinigkeiten, um der Zukunft Willen, um des Kampfes gegen das globale Böse Willen, fähig waren, zusammenzustehen. Und heute, da wir durch gemeinsame Werte vereint sind, müssen wir einfach diese Erfahrung der Partnerschaft nützen, um wirksam gemeinsamen Herausforderungen und Gefahren zu begegnen, um den globalen Raum der Kooperation zu weiten, um solche Anachronismen wie die trennenden Linien – welcher Natur sie auch sein mögen – loszuwerden.

Es ist offensichtlich, dass das wiederkehrende Erbe der Konfrontation der Ära des Kalten Krieges und die enge, auf Blöcken basierende Herangehensweise an Schlüsselproblemen unserer Zeit in keinster Weise in eine solche Logik passen. Eine wahrhaft demokratische, multipolare Welt erfordert gestärkte humanistische Prinzipien in internationalen Beziehungen und beinhaltet die Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit und Bestrebungen, über dem Gesetz zu stehen.

Gleichzeitig aber möchten wir sagen, dass Europa und die Welt als Ganzes sich auf eine größere Sicherheit für alle zubewegen, hinwärts zu dem Verständnis der ganzen Bedeutung des Miteinander-Arbeitens, hinwärts zu Kooperation und nicht zu mehr Uneinigkeit.

Die historische Nachkriegs-Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland öffnete den Weg zur Errichtung der Europäischen Union. Gleichzeitig machten die Weisheit und die Großzügigkeit des russischen und des deutschen Volkes wie auch die Vorausschau der Staatsmänner beider Länder es möglich, einen entscheidenden Schritt zu der Errichtung eines Großen Europas zu gehen. Die Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland ist zu einem Beispiel geworden des Aufeinanderzugehens und des Strebens nach einer Zukunft mit der Sorge um die Erinnerung an die Vergangenheit. Und heute spielt die russisch-deutsche Kooperation eine große positive Rolle in der internationaler und europäischen Politik. Ich bin mir sicher, dass die russisch-polnischen Beziehungen früher oder später zu einem solch hohen Niveau kommen werden, zu einem Niveau von echten Freunden. Dies steht im Interesse unserer Völker und des ganzen europäischen Kontinent.

Wir sind sehr dankbar, dass Polen, das Land, in dem mehr als 600.000 Soldaten der Roten Armee liegen, die ihr Leben für seine Befreiung gaben, Sorgfalt und Respekt für unsere Kriegsgräber zeigt. Glauben Sie mir, diese Worte sind nicht einfach offiziell gesagt, sondern sie sind ehrlich und kommen von Herzen.

Das russische Volk, dessen Schicksal von dem totalitären Regime angeschlagen wurde, versteht vollständig die Empfindlichkeit der Polen bzgl. Katyn, wo Tausende von polnischen Soldaten liegen. Gemeinsam müssen wir die Erinnerung an die Opfer dieses Verbrechens am Leben erhalten.

Die Katyn und Mednoye Gedenkstätten, genauso wie das schreckliche Schicksal der russischen Soldaten die in Polen während des Kriegs 1920 gefangen wurden, sollten zu einem Symbol des gemeinsamen Trauer und gegenseitigen Vergebung werden.

Die Schatten der Vergangenheit können dies nicht mehr verdecken und vor allem nicht die darauf folgende Kooperation von Polen und Russland. Unsere Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und dem Vergangenen, gegenüber der Geschichte überhaupt, ist, dass wir alles dafür tun, die polnisch-russischen Beziehungen vom Ballast des Misstrauens und der Voreingenommenheit, welche wir geerbt haben, zu befreien.

Heute, da wir des ersten Tags des Zweiten Weltkriegs gedenken, denken wir auch an seinen letzten Tag – der Tag des Siegs. Wir standen während dieses Kampfes zusammen für die Zukunft der Menschheit. Es hängt nur von uns ab, dass alles dafür getan wird, das zu stärken, was die Menschen in Polen und in Russland miteinander verbindet, durch neue und wiederholte Maßnahmen im neuen 21. Jahrhundert, das bereits begonnen hat.

Es ist wichtig, das seine solche Logik, eine konstruktive, beginnt, in den polnisch-russischen Beziehungen hervorzutreten. Nach der unbegründeten langen Pause nahmen die Schlüsselmechanismen des bilateralen Dialogs ihre Arbeit wieder auf – auf staatlicher und öffentlicher Ebene. Die bilateralen Kontakte entwickeln sich, der kulturelle, schulische und weitere humanitäre Austausch wird gesteigert.

Das Jahr 2008 war erfolgreich für die Handels- und Wirtschaftsverbindungen zwischen unseren Ländern – der gemeinsame Markt vergrößerte sich um mehr als das Anderthalbfache. Unter den gegenwärtigen komplizierten Umständen der globalen Krise versuchen wir alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Einfluss der unvorteilhaften Weltwirtschaft zu überwinden und neue, aussichtsreiche Projekte zu starten. Diese könnten Energie, Transport, Investierungen in Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur umfassen. Offen gesagt, die verheißungsvollen Aussichten für die partnerschaftliche Arbeit, für die Errichtung von Beziehungen, die den zwei großen europäischen Nationen würdig sind, öffnen sich vor Polen und Russland.

Abschließend möchte ich dem polnischen Volk, darunter an erster Stelle den Veteranen des Zweiten Weltkriegs, meine wärmsten Wünsche für Friede, Freude und Wohlstand unterbreiten.

Quellen

Quellen
1 Artikel Wladimir Putins in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, URL: http://premier.gov.ru/eng/events/3514.html (Übersetzung durch Potsblits) – abgerufen am 1.09.2009