Polnische Ostgebiete? – Teil 1
Großbritannien war für die „Integrität“ Polens in den Krieg gezogen, der wertvolle Verbündete Stalin wollte jedoch das im Rahmen des “Hitler-Stalin-Pakt” kassierte Ostpolen (und auch das Baltikum) auf keinen Fall wieder herausrücken. Churchill glaubte mit der “Westverschiebung Polens” eine Lösung gefunden zu haben. Auf diesem Hintergrund befasst sich die Artikelserie mit den ehem. “polnischen Ostgebiete”. Die hier geäußerten Gedanken legen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Themenheft „Geschichte und Geschehen – Deutsche Außenpolitik 1914 – 1945“1)Ernst Klett Schulbuchverlag, Geschichte und Geschehen – Deutsche Außenpolitik 1914 – 1945, Themenheft Sekundarstufe II, 1. Aufl. 2005, http://www.klett.de/sixcms/list.php?page=suche&modul=produktdetail&isbn=3-12-430044-0 – abgerufen am 10.08.2006 des Ernst Klett Schulbuchverlags schreibt auf den Seiten 29ff über die „Nationalitätenfrage in Polen 1918 bis 1939″:
Der polnische Staat war seit 1795, aufgeteilt zwischen Preußen, Russland und Österreich, von der europäischen Landkarte verschwunden. Das kurze Zwischenspiel des napoleonischen Herzogtums Warschau endete 1815 mit der Abtretung „Kongresspolens“ an den russischen Zaren. Mehrere polnische Aufstände im 19. Jahrhundert konnten die auf dem Wiener Kongress festgeschriebenen Grenzen nicht mehr revidieren.
Geschichte und Geschehen, 29.
Erst im Laufe des 1. Weltkrieges kehrte Polen auf die Landkarte zurück und mit dem Versailler Vertrag wurde auch die Konstituierung eines nunmehr unabhängigen Polens von den Siegermächten verhandelt. Es gab zwei Standpunkte:
Die “jagellonische Richtung” plädierten für eine föderative Anbindung der überwiegend litauisch, weißrussisch und ukrainisch besiedelten Gebiete an das polnische Kerngebiet.
Die “piastische Richtung” befürwortete einen weitgehend national homogenen polnischen Staat.
Versailles legte fest, dass Deutschland die Provinz Posen und Westpreußen an die neue Republik Polen abtreten musste.2)Der Versailler Friedensvertrag und der deutsche Osten
Im Osten Polens wurde schließlich eine Demarkationslinie gezogen, die in etwa den ethischen Verhältnissen entsprach und nach dem britischen Außenminister Lord Curzon als „Curzon-Linie“ in die Geschichtsbücher einging.
Die meisten polnischen Nationalisten waren aber nicht bereit, diese Linie anzuerkennen und der Sieg der Bolschewiki in der Ukraine gab den Anlass, dass Pilsudski mit der neuen polnischen Armee in das Nachbarland einmarschierte und im Mai 1920 Kiew und Minsk besetzte.
Geschichte und Geschehen, 31.
Letztlich kam es am 18. März 1921 zum Frieden von Riga, wo eine neue Grenze zwischen Sowjetrussland und Polen definiert wurde. Große ukrainische und weißrussische Gebiete fielen nun an Polen. In diesen Gebieten wurde ein polnischsprachiges Schulsystem vorangetrieben, wobei die anderen Volksgruppen unterrepräsentiert blieben. Die orthodoxe und griechisch-katholische Kirchen gerieten unter stärkere staatliche Kontrolle und Polen sicherte sich den Einfluss auf personelle Fragen.
Die gewalttätigen “Pazifikationen” des Pilsudski-Regimes in Ostpolen mit Hunderten von Toten und Dutzenden zerstörter orthodoxer Kirchen betrachtete die “polnische Kirche” als Missionierung, ähnlich wie das Vorgehen gegen die Deutschen im ehemals preußischen Gebiet.
Chauvinismus und Verstrickung, 18.3)Georg W. Strobel, Chauvinismus und Verstrickung. Die Haltung der katholischen Kirche Polens gegenüber Deutschen und Deutschland, insbesondere nach 1945, Haus des Deutschen Ostens, München, 1999
Zwischen Polen und Litauen bzw. Polen und der Tschechoslowakei kam es in den “Zwischenkriegsjahren” (zwischen 1. und 2. Weltkrieg) ebenfalls zu teils gravierenden Grenzkonflikten.
Auf diese Weise sah sich der polnische Staat von Anfang an (…) von Nachbarn umgeben, die die polnischen Grenzen in Frage stellten und teilweise beträchtlichen Einfluss auf Minderheiten in Polen ausübten.
Geschichte und Geschehen, 31.
Am 27. September 2002 schrieb die Neue Zürcher Zeitung in dem Artikel „Die trennende Kraft gemeinsamer Geschichte“4)Neue Zürcher Zeitung (27.09.2002), Die trennende Kraft gemeinsamer Geschichte, http://www.nzz.ch – abgerufen am 10.08.2006 über das polnisch-litauische Verhältnis:
Die Litauer seien sich sehr stark bewusst, dass Polen seit der Gründung der Polnisch-Litauischen Union im 14. Jahrhundert, die unter der Dynastie der Jagiellonen (1386 – 1572) zu einer europäischen Großmacht aufstieg, stets die Absicht verfolgte, „sich die litauischen Gebiete anzueignen, am besten durch Polonisierung der Oberschicht, die Hand in Hand mit der Christianisierung einherging.“
In diesem Konflikt würde der „Mythos von Vytautas“ (poln. Witold), dem Nationalheld der Litauer wurzeln. Vytautas war der Vetter des litauischen Großfürsten Jogaila (poln. Jagiello). Er ist für die Litauer das Symbol des Unabhängigkeitswillens ihrer Nation.
1. Resümee:
“Polnische Ostgebiete“ bezieht sich auf das Territorium der historisch gewachsenen Ethnien der Litauer, Weißrussen und Ukrainer, das schließlich nach Ende des Kalten Krieges die Grundlage für deren Nationen bildete.
Quellen
↑1 | Ernst Klett Schulbuchverlag, Geschichte und Geschehen – Deutsche Außenpolitik 1914 – 1945, Themenheft Sekundarstufe II, 1. Aufl. 2005, http://www.klett.de/sixcms/list.php?page=suche&modul=produktdetail&isbn=3-12-430044-0 – abgerufen am 10.08.2006 |
---|---|
↑2 | Der Versailler Friedensvertrag und der deutsche Osten |
↑3 | Georg W. Strobel, Chauvinismus und Verstrickung. Die Haltung der katholischen Kirche Polens gegenüber Deutschen und Deutschland, insbesondere nach 1945, Haus des Deutschen Ostens, München, 1999 |
↑4 | Neue Zürcher Zeitung (27.09.2002), Die trennende Kraft gemeinsamer Geschichte, http://www.nzz.ch – abgerufen am 10.08.2006 |
Claus Pichlo
31. Januar 2009 @ 14:52
“…Territorien, auf die in der Geschichte Litauer, Weißrussen und Ukrainer ebenfalls historischen Anspruch anmeldeten…”
Ich finde es würde klarer die Verhältnisse wiedergeben, wenn man so formulieren würde:
“…Territorien, die Litauen, Weißrussland und die Ukraine umfassten, historisch gewachsene Ethnien, auf die Polen dreist einen Anspruch anmeldeten…”
Denn auch wenn Polen im Laufe seiner Geschichte schon mehrmals in diese Siedlungsräume fremder Nationen eingefallen war, zuletzt 1920 unter Pilsutzki, und diese Gebiete bisweilen für längere Zeit unter seine Herrschaft gezwungen hatte, konnte es auf garkeinen Fall irgendwelche Ansprüche auf diese Territorien erheben, besonders dann nicht, wenn man das zur Zeit der Versailler Vertragsverhandlungen allgemein akzeptierte (aber nicht eingehaltene) Selbstbestimmungsrecht der Völker respektieren wollte.
Polnische Ansprüche auf Weißrussland oder die Ukraine sind genauso absurd, wie ihre Ansprüche auf Ostpreußen, die sie ja (frech) ebenfalls nach dem 1. Weltkrieg geltend machten!
Die Donau-Monarchie und ganz besonders das Deutsche Reich hatten 1917 gerade Polen wieder neu statuiert/installiert und aus der Taufe gehoben, schon beanspruchten sie 1918 Ostpreußen.
Auch wenn diese längst überfällige preußische Neugründung des polnischen Staates ja nur eine “Wiedergutmachung” für die preußische Täterschaft bei der Teilung Polens 1795 war, (und auch noch ganz andere Gründe, z.B. strategische, hatte) war der Dank der Polen, für diese einmalige Geste der Deutschen, der versuchte und dann 1919 tatsächlich gelungene Biß des polnischen Adlers tief in deutsches Fleisch. Mit Hilfe des Völkerbundes rissen sie gewaltige Teile des Reiches an sich… Die Folgen 1939, dieser zügellosen Landgier, sind bekannt!
Polens Drang nach Westen, eigentlich in alle Richtungen, war letztlich extrem erfolgreich und brachte seltsamerweise den Polen den Ruf eines geschundenen Opfers ein, ganz besonders unter den Deutschen, die unter diesem Drang die furchtbarsten Wunden davontrugen.
Das Leiden der Deutschen unter polnischer Knute fing 1919 in den von Polen annektierten deutschen Gebieten an (700.000 Vertriebene, Hunderte, vieleicht Tausende Ermordete) und endeten mit der ethnischen Säuberung der deutschen Ostgebiete durch Polen 1945 (der letzte Masure wurde 1950 vertrieben, zurückgeblieben sind vieleicht 100.000).
Aus der Sicht des polnischen “Opfers” wahrscheinlich eine einmalige Erfolgsgeschichte der Expansion. Wenn das der Architekt dieser phantastischen Landvermehrung, der ehemalige poln. Außenminister Beck noch miterlebt hätte…
P.S. dass dazwischen auch noch der 2.Weltkrieg lag, mit grausamen Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen für das schlimme Wüten der Polen in Westpreußen, Posen und Oberschlesien gegen die deutsche Bevölkerung und die Deportation der polnischen Täter und ihrer Angehörigen in das Generalgouvernement (um die deutsche Bevölkerung vor ihnen zu schützen) ist natürlich keineswegs vergessen. Das war ebenfalls ein furchtbares Verbrechen, für das die deutschen Verantwortlichen mit dem Tode bestraft wurden. Kollektivschuld aber ist ein Verbrechen!
C.Pichlo
Arturo
5. März 2009 @ 16:28
“Versailles legte fest, dass Deutschland die Provinz Posen und Westpreußen an die neue Republik Polen abtreten musste.
Im Osten Polens wurde schließlich eine Grenze gezogen, die in etwa den ethischen Verhältnissen entsprach und nach dem britischen Außenminister Lord Curzon als „Curzon-Linie“ in die Geschichtsbücher einging”
Das stimmt doch gar nicht.
Im Vertrag von Versaille gibt es keine Vereinbarung über die polnische Ostgrenze. Die Curzon-Linie war nie als eine Grenze gedacht. Es war nichts anderes als ein Vorschlag des ehemaligen Vicekönigs von Indien für eine DEMARKATIONSLINIE zwischen den kämpfenden polnischen und sowjetischen Verbänden, der im Juli 1920 den Sowjets vorgelegt wurde. Da die Situation der Sowjets zu diesem Zeitpunkt viel versprechend war, haben sie den Vorschlag abgelehnt.
Diese Linie war keineswegs als Grenze zu betrachten sondern lediglich als vorläfige Abgrenzung zwischen den kämpfenden Seiten.
“Rechte, die Polen ostwärts dieser Linie geltend machen könnte sind hiermit deutlich gewährt” (Les droits que la Pologne pourrait avoir a faire valoir sur les territoires situés a l’Est de ladite ligne sont expressément réservés).
Hier mehr darüber:
“The Curzon Line was a demarcation line between the Second Polish Republic and Bolshevik Russia, first proposed on December 8, 1919 at the Allied Supreme Council declaration. The line was authored by British Foreign Secretary, George Nathaniel Curzon, 1st Marquess Curzon of Kedleston. In the wake of World War I and the Russian Civil War, the two countries disputed their borders, and the Polish-Soviet War erupted. In July 1920, Curzon asked the Soviet government to accept it as a possible armistice line. Curzon’s plan was initially not accepted by the Soviets, as the military situation was at that time in their favour, and later was not accepted by the Poles when the military situation had shifted to their favour.”
http://en.wikipedia.org/wiki/Curzon_line
Potsblits
5. März 2009 @ 19:13
Vielen Dank für die Kommentare. Ich habe jetzt den Artikel verbessert.
Verweisen möchte ich auch noch auf den bereits unten zitierten Artikel “Der Versailler Friedensvertrag und der deutsche Osten”. Dort steht zur Curzon-Linie:
“Nachdem die Bolschewiki Ende des Jahres 1919 die “Weißen Armeen” besiegt hatten, rechnete Polen mit ihrem Vorgehen gegen Weißruthenien (Weißrußland). Am 25. April 1920 griff es daher Sowjetrußland an – entgegen der Warnungen des Oberstes Rates der Entente, gebildet aus den Regierungschefs von Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Belgien.
Obwohl die Polen im Mai Kiew erobert hatten, mußten sie vor einem Gegenangriff der Roten Armee zurückweichen und baten den Obersten Rat der Entente um Hilfe. Dieser forderte die Polen zum Rückzug hinter die polnische Sprachgrenze im Osten auf. Der britische Außenminister Lord Curzon schlug diese Linie in einem Telegramm vom 11. Juli 1920 den Polen und den Sowjets als Demarkationslinie vor.”
Arturo
6. März 2009 @ 09:49
“Nachdem die Bolschewiki Ende des Jahres 1919 die “Weißen Armeen” besiegt hatten, rechnete Polen mit ihrem Vorgehen gegen Weißruthenien (Weißrußland)”
Zuzüfügen wäre noch, dass der Krieg schon seit Februar 1919 im Gange war. Nun, mit ihren gesamten Kräften und der Ausrüstung, die sie an den “Weißen” erbeutet haben planten die Sowjets eine große Offensive im Westen. Sie sollte im Frühjahr 1920 gestartet werden.
Die Offensive der Polen stellte also nicht den Anfang des Krieges dar, wie von manchen behauptet wird, sondern eine preventive Maßnahme in einem schon seit über einem Jahr andauernden Krieg in dem es keine Grenze oder Demarkationslinie existierte.
“Dieser forderte die Polen zum Rückzug hinter die polnische Sprachgrenze im Osten auf.”
So etwas wie eine “Sprachgrenze” gab es aber nicht. Ostlich wie westlich in den umkämften Gebieten gab es große Gebiete, wo mehrheitlich polnisch, ukrainisch, russisch, weißrussisch usw. gesprochen wurde.
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c8/Nationalities_in_Second_Polish_Republic_ca._1931.png
In den Gebieten, die zwischen der Curzon-Linie und der polnischen Ostgrenze von 1921 lagen, lebten laut der Volkszählung von 1931 etwa 12 Millionen Menschen. Davon waren: 39,9 % Polen, 34,4 % Ukrainer, 8,4 % Juden, 8,5 % Weißrussen, 1% Russen, o,6% Litauer, 6,4% andere Nationalitäten.
Man darf nicht vergessen, dass die Curzon-Linie nie als die polnische Ostgrenze gedacht war, was in dem Vorschlag deutlich formuliert wurde und dass es die Sowjets waren, die diesem Vorschlag nicht zugestimmt haben.
Potsblits
6. März 2009 @ 20:29
Wikipedia schreibt zur Curzon-Linie:
“In den Gebieten östlich davon stellten die Ukrainer und Weißrussen die Mehrheit, es lebten dort aber auch viele Polen (laut der polnischen Volkszählung von 1919 etwa 25 %, nach der Amtszeit Piłsudskis 1936 etwa 36 % der Bevölkerung).” (Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Curzon-Linie)
D.h. alleine die polnischen Angaben über die ethnische Zusammensetzung in den Gebieten östlich der “Curzon-Linie” offenbaren eine starke Polonisierung derselben zwischen 1919 und 1936.
Das Gleiche gilt wohl auch für Ostoberschlesien.
spöke
15. Februar 2017 @ 15:28
Arturo und andere sind aufgerufen die Argumente von Claus anhand des Versailles Vertrages auszuhebeln.
Und nicht mit den Argumenten aus WIKI.