Deutsch-polnischer Grenzvertrag
Sie lesen hier die Gründe des früheren Bundestagsabgeordneten Bernhard Jagoda, die ihn dazu bewogen hatten, den Verträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze und über die gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit seine Zustimmung zu verweigern. Eine namentliche Abstimmung über die „Polen-Verträge“ hatte es nicht gegeben, da sie von keiner Fraktion beantragt war. Man kann aber davon ausgehen, dass nahezu alle Abgeordneten, die gegen den Grenzvertrag gestimmt hatten, dazu eine Erklärung abgaben.
Erklärung nach §31 GO des Abgeordneten Berhard Jagoda (CDU/CSU)1)Erklärung nach §31 GO des Abgeordneten Berhard Jagoda (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4), Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991. Herzlichen Dank an User „Kautschuk“ für die Bereitsstellung dieses Beitrags!
Dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze kann ich nicht zustimmen.
Im Art. 1 des Vertrages vom 14. November 1990 beziehen sich die vertragsschließenden Parteien in bezug auf den Verlauf der Grenze auf das Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen und auf den Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Diese Verträge gehen von einer völlig gegensätzlichen völkerrechtlichen Lage ganz Deutschlands aus. Das Görlitzer Abkommen unterstellt – nach Auffassung der westlichen Siegermächte, des Deutschen Bundestags (Erklärung Löbe) und der Bundesregierung im Jahre 1950 – rechtswidrig den Untergang ganz Deutschlands. Der Warschauer Vertrag jedoch geht als konkretisierter Gewaltverzicht vom Fortbestand Deutschlands in seinen rechtmäßigen Grenzen aus.
Im Mai 1972 haben Bundestag und Bundesrat festgestellt, daß bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsgrundlagen für die „heute bestehenden Grenzen Deutschlands“ geschaffen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dem Warschauer Vertrag von 1970 in seinem Beschluß von 1975 ausdrücklich bestätigt, daß Deutschland in den Grenzen von 1937 fortbesteht und durch diesen Vertrag von 1970 keine Anerkennung einer anderen Grenze und des Gebietsübergangs vorgenommen wurde.
Jetzt wird in der von einem tiefen Dissens belasteten Kernvorschrift des Art. 1 „die zwischen ihnen bestehende Grenze“ ohne Vereinbarung eines Rechtsgrundes und eines Zeitpunktes des rechtlichen Zustandekommens „bestätigt“. Nach meiner Überzeugung ist es nicht möglich, eine Grenze zu bestätigten, die es bisher rechtlich nicht gab.
Wenn schon wegen des deutschen Einigungsprozesses oder wegen politischer Zwänge und internationaler Gegebenheiten Deutschland die Grenzen von 1937 nicht behalten kann und wenn eine Abtretung deutschen Gebietes Grundlage für einen europäischen Einigungsprozeß sein sollte, dann wäre diese Grenze in einem Kompromiß neu auszuhandeln gewesen.
Ich habe nicht den Eindruck, daß über die Grenzziehung hinreichend verhandelt wurde, sonst hätte zumindest ernsthaft erörtert werden müssen, ob nicht wenigstens Städte und Gemeinden, die durch diese Linie geteilt sind, wieder zusammengefügt werden können (z.B. Görlitz, Guben, Frankfurt/Oder), oder warum die Oder bis zu ihrer Mündung nicht die Grenze zwischen Deutschland und Polen bildet. Ein weiterer tragfähiger Ausgleich in Gebietsfragen hätte erheblich zu einer dauerhaften Verständigung zwischen Polen und Deutschland beigetragen.
So wünschenswert es auch ist, daß die Grenzen in Europa in Zukunft mehr und mehr ihren trennenden Charakter verlieren, so ist doch eine glaubwürdige Regelung der Gebietsfrage für eine zukünftige positive Entwicklung zwischen beiden Völkern in Europa unverzichtbar. Das zwingende Recht der freien Selbstbestimmung – seit fast zwei Jahrzehnten unabdingbar und unverzichtbar – aller Staatsvölker und auch des deutschen Volkes, unter besonderer Achtung der Betroffenen, wird weder beim Vertragsinhalt noch beim Vertragsgesetz beachtet.
Auch dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit kann ich nicht zustimmen.
Das große Unrecht und Leid, das Polen während der Diktatur Hitlers zugefügt wurde, aber auch das Unrecht der Vertreibung und die dauerhafte Benachteiligung der Deutschen in ihrer Heimat, belasten als schwere Hypothek die notwendige Verständigung, Aussöhnung und enge Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen. Deshalb ist der Versuch grundsätzlich zu begrüßen, den schwierigen Aussöhnungsprozeß mit einem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Ich erkenne an, daß dieser Vertrag auch positive Elemente enthält.
Der beiden Völkern bevorstehende Weg zur Verständigung und Zusammenarbeit wird lang und schwer sein, und auch Rückschläge sind nicht auszuschließen. Deshalb hätte ich erwartet, daß dieser Vertrag Elemente liefert, die den sehr differenzierten europäischen und internationalen Standard bilateral präzisieren und verbessern.
Polen will der EG und dem Europarat beitreten. Dabei wird es notwendig sein, daß Polen der Europäischen Menschenrechtskonvention samt Zusatzprotokoll beitritt und sich der Rechtsprechung des Europäischen Menschengerichtshofs unterwirft. Den politischen UN-Menschenrechtspakt hat Polen schon ratifiziert. Diese beiden Verträge schützen wirksamer und wesentlich verbindlicher als der Nachbarschaftsvertrag die Rechte der Deutschen und der deutschen Volksgruppe in ihrer Heimat.
Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistet international die Anwendung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte für jedermann am jeweiligen Wohnsitz – ungeachtet der Staatsangehörigkeit. Der Nachbarschaftsvertrag gestattet den Angehörigen der deutschen Minderheit jedoch nur, „sich wie jedermann wirksamer Rechtsmittel zur Verwirklichung ihrer Rechte im Einklang mit den nationalen (polnischen) Rechtsvorschriften zu bedienen.“ Präzise Rechtsvorschriften für Minderheiten fehlen in Polen jedoch weitgehend.
Das Vierte Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet alle Rechte, die man unter dem Begriff des Rechtes auf die Heimat zusammenfaßt, der Nachbarschaftsvertrag schweigt sich über dieses Recht völlig aus.
Nach dem Völkerrecht und nach der Haager Landkriegsordnung ist die Konfiskation des Eigentums – auch der deutschen Staatsangehörigen – unzulässig. Der Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag regelt in keiner Weise eine zumutbare Wiedergutmachung für Schäden an Leib und Leben sowie Eigentum.
Art. 25, 26 und 27 sowie andere Artikel des politischen UN-Menschenrechtspaktes verbieten die Diskriminierung aus nationalen Gründen beim Zugang zu Ämtern, bei Wahlen, bei der Religionsausübung, bei der Pflege des eigenen kulturellen Lebens und der eigenen Sprache, zusammen mit anderen Angehörigen der eigenen nationalen Gruppe. Das auch von Polen ratifizierte Übereinkommen vom 7. März 1966 gegen die Diskriminierung aus Gründen des Volkstums verpflichtet auch zu „Sondermaßnahmen für den Schutz“ nationaler Gruppen, was Polen in der Praxis ablehnt. Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet ferner den Minderheiten das eindeutige Recht auf Zusammenschluß.
Dies alles wirkt in der Durchsetzung unabhängig vom „Einklang“ mit polnischen nationalen Rechtsvorschriften und geht viel weiter als die Möglichkeiten, die die heute weitgehend noch nicht reformierte kommunistische polnische Verfassung von 1952 eröffnet. Vor allem schützen aber die Europäische Kommission für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch praktisch erprobte Rechtskontrolle die Menschen- und Gruppenrechte vor Verletzungen und Beseitigung.
In vielen Fällen wirkten und wirken Schiedsgericht und Schiedsstellen zwischen Streitenden friedensstiftend. Leider sieht der Nachbarschaftsvertrag diese auch in Minderheitsfragen erprobten Einrichtungen nicht vor.
Nach zwei Jahrhunderten schweren Spannungen zwischen Polen und Deutschen halte ich eine tragfähige und glaubwürdige Verständigung, eine enge Zusammen- und Wiederaufbauarbeit für geschichtlich geboten, ja sogar unabdingbar für unsere künftige Generation.
Dies erfordert von beiden Seiten die Kraft, Fehler und Schuld zu bekennen und daraus die Lehre zu ziehen, in ausgewogenem Geben und Nehmen dies ehrlich, überzeugend und umfassend zu gewährleisten. Dazu gehört auch die Garantie für freie Erhaltung und Entfaltung der Eigenart der deutschen Volksgruppe. Der Nachbarschaftsvertrag schafft dies leider nicht.
Ich wünsche den Deutschen und Polen in meiner Heimat, daß sie trotz unzureichender Verträge den Neuanfang schaffen, um sich selbst und den kommenden Generationen den Weg zu einem friedlichen und dauerhaften Miteinander zu bahnen.
Quellen
↑1 | Erklärung nach §31 GO des Abgeordneten Berhard Jagoda (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Republik Polen (Tagesordnungspunkt 4), Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Oktober 1991. Herzlichen Dank an User „Kautschuk“ für die Bereitsstellung dieses Beitrags! |
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