Der Churchill-Stalin-Pakt

Vom 4. bis 11. Februar 1945 fand auf der Schwarzmeer-Halbinsel „Krim“ die Konferenz von Jalta statt, an der Josef W. Stalin (UdSSR), Franklin D. Roosevelt (USA) und Winston Churchill (England) beteiligt waren. Am 27. Februar 1945 berichtet Churchill vor dem Unterhaus in London über diese alliierte Konferenz und geht ausführlich auf die polnische Frage ein. Im Anschluss an seinen Bericht wird im Unterhaus in einer Aussprache ausführlich über die polnischen Grenzen gestritten… Der „Churchill-Stalin-Pakt“ geht als „Westverschiebung Polens“ in die Geschichtsbücher ein.

Konferenz von Jalta
Gruppenfoto in Jalta (v.l.n.r: Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin)1)Bildquelle: U.S. federal government. Gefunden auf Wikimedia Commons, Lizenz: Public Domain – abgerufen am 2.06.2009

Im „Hitler-Stalin-Pakt“ (24. August 1939) hatten Hitler und Stalin ihre „Interessensphären“ in Mittel-/Osteuropa abgesteckt. Ab 1. September 1939 besetzte Hitler „seinen Teil“ Polens und Stalin tat dasselbe mit „seinem Teil“ ab 17. September 1939. Später machte er deutlich, dass er ihn nicht mehr herausrücken würde.2)Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939
In seiner Ansprache vor dem Londoner House of Commons am 27. Februar 1945 versucht der britische Premierminister Winston Churchill nun den russischen Anspruch auf die Gebiete östlich der Curzon-Linie zu rechtfertigen:

Wenn ich für diese Grenze zugunsten Russlands eintrete, so geschieht es nicht, weil ich mich der Gewalt beuge. Es geschieht, weil ich sie unter diesen Umständen für die anständigste Gebietsteilung zwischen den beiden Ländern halte, deren Geschichte so ineinander verwoben und verflochten ist.
Die Curzon-Linie wurde im Jahre 1919 von einer Experten-Kommission gezogen, der einer der hervorragendsten Vertreter des damaligen Außenministeriums, Sir Eyre Crowe, angehörte. Sie wurde zu einer Zeit gezogen, da Russland wenige Freunde unter den Alliierten hatte.27.02.1945 Rede Churchills vor dem Unterhaus. Oder-Neiße-Linie, 199.3)Parliamentary Debates, House of Commons, Official Report, Bd. 408, Sp.1275-1280, Sp. 1298-1345, 1457-1458, 1500-1501, 1616-1660. In: Quellen zur Entstehung der Oder-Neisse-Linie (in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges), Gesammelt und herausgegeben von Gotthold Rhode und Wolfgang Wagner, Brentano-Verlag, Stuttgart 1956. 199 – 213.

England war jedoch für die „Freiheit, Unabhängigkeit, Unversehrtheit und Souveränität Polens“ in den Krieg gezogen. Stalins Kompensationsgedanken, den dieser spätestens Ende Dezember 1941 gegenüber dem Premierminister der polnischen Exilregierung, General Wladyslaw Eugeniusz Sikorski, vorgebracht hatte, griff Churchill auf und bereits im März 1942 sprach sich das Londoner Foreign Office für eine Kompensation Polens auf Kosten Deutschlands aus. Auf diese Weise konnte England gegenüber Polen das Gesicht wahren.

Diese Vorentscheidung, Polen prinzipiell auf Kosten Deutschlands zu entschädigen, wurde im Londoner Unterhaus heftig diskutiert. Sir William Beveridge von der Liberal Party sagte z.B.:

Wenn wir uns jetzt deshalb für die Curzon-Linie aussprechen, weil sie wirklich gerecht ist, so besteht kein eigentlicher Grund mehr für eine Entschädigung der Polen im Westen oder anderswo.

[…]

Wir müssen unserer Entscheidung über die Ostgrenzen Polens die Gerechtigkeit zugrunde legen, um die wir uns nach dem letzten Krieg bemühten, die zu verwirklichen wir jedoch nicht stark genug waren. Ich halte die Anregung nicht für allzu gut, dass Polen dazu ermuntert werden soll, sich nach Westen in Gebiete hinein auszudehnen, die jetzt deutsch sind und wahrscheinlich auch noch von Deutschen bewohnt bleiben werden.27.02.1945 Sir William Beveridge, Parlamentsdebatte. Ebd., 205f.

Churchill war auf diese Befürchtungen bereits in seiner Rede eingegangen, in der er die Bedingungen für die Bildung der Westgrenze Polens erwähnte:

Die Westgrenze, die Polen einen wesentlichen Zuwachs von deutschem Gebiet bringen wird, kann nur als Teil der Regelung der gesamten deutschen Frage festgelegt werden, und zwar erst dann, wenn die Alliierten das deutsche Gebiet besetzt haben und eine in jeder Hinsicht repräsentative polnische Regierung ihre Wünsche bekanntgeben konnte.27.02.1945 Rede Churchills vor dem Unterhaus. Ebd., 203.

Der Abgeordnete Price von der Labour-Party ist auch dafür, die Frage der polnischen Westgrenze erst später zu klären:

Ich freue mich, dass die Konferenz [von Jalta] vereinbart hat, die Frage der polnischen Westgrenze im Einzelnen zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden. Ich halte dies für klug, da ich mich bei dieser ganzen Angelegenheit nicht sehr glücklich fühle. Es scheint, als sei Russland sehr daran gelegen, die Polen zu veranlassen, eine weite Ausdehnung ihres Gebietes nach Westen anzunehmen.27.02.1945 Abgeordneter Price, Parlamentsdebatte. Ebd., 207.

Auch er teilt die Sorge, vorwiegend bzw. rein deutsches Gebiet an Polen zu geben:

Außerdem sehe ich nicht ein, warum Polen für etwas entschädigt werden soll, auf dessen Besitz es gar kein Recht hatte. […] Aber das ganze Land ist meilenweit jenseits der Oder vorwiegend deutsch, bis man in die Nähe von Posen kommt. Ich bin daher überzeugt, dass wir durch die Austreibung der Bevölkerung aus rein deutschem Gebiet nur neue Schwierigkeiten schaffen würden.27.02.1945 Abgeordneter Price, Parlamentsdebatte. Ebd., 207.

Der britische Außenminister Robert Anthony Eden von der Conservative Party fügt hinzu:

Östlich der Curzon-Linie gibt es keine Gebiete, wo die Polen die Mehrheit bilden, außer den beiden Städten Wilna und Lemberg, die wiederum von weiten nichtpolnischen Gebieten umgeben sind.27.02.1945 Robert Anthony Eden, Parlamentsdebatte. Ebd., 209.

Rhys John Davies von der Labour Party sorgt sich um den Frieden in Europa:

Wenn die Politik der alliierten Mächte darin besteht, Danzig und Ostpreußen sowie andere deutsche Landesteile an Polen abzutreten, einen neuen Staat zu gründen, indem sie andererseits Landesteile Polens an Russland abgeben, glauben sie auch nur einen Augenblick daran, dass sie auf diese Weise vielleicht einen dauerhaften Frieden in Europa schaffen? Wenn sie der Auffassung sind dass sie wirklich nicht drei große Männer genannt werden können, könnten wir sie vielleicht umtaufen und sie drei blinde Mäuse nennen.

[…]

Angenommen, die Bevölkerung von Wales und Schottland würde zwangsweise nach England evakuiert und ließe ihre Schulen, Einrichtungen und die Gräber ihrer Angehörigen zurück, glaubt mein ehrenwerter Freund, dass sie sich wohlfühlen würden und nicht wünschten, in ihre Heimat zurückzukehren? Das liegt in der menschlichen Natur.27.02.1945 Rhys John Davies, Parlamentsdebatte. Ebd., 211f.

George Russell Strauss von der Labour-Party sieht ebenfalls den zukünftigen europäischen Frieden gefährdet:

Nach den Worten des Premierministers sollen gewisse Teile Deutschlands, bestimmt aber Oberschlesien, an Polen abgetreten werden. Ich hoffe, die Regierung wird es sich sehr genau überlegen, bevor sie einen Vorschlag dieser Art endgültig billigt, der niemandem Vorteil bringen kann, sondern für die allgemeine Aussichten eines dauerhaften europäischen Friedens äußerst schädlich sein könnte. Worauf stützt sich ein derartiger Vorschlag? Er soll eine Entschädigung für Polen darstellen. Die ganze Rechtfertigung der Curzon-Linie besteht aber nur darin, dass sie 1919 in Versailles vereinbart wurde. Nicht nur die Curzon-Linie, sondern auch die polnische Westgrenze wurde in Versailles festgelegt. Wenn die eine für Polen gerecht ist, dann ist es wahrscheinlich auch die andere.

Schließlich möchte ich noch folgendes sagen: Es ist sicherlich kein ehrenhaftes Argument, wenn der Ministerpräsident sagte, dass wir Bevölkerungsteile vertreiben und Strafmaßnahmen durchführen können, weil Deutschland auf viele Generationen hinaus machtlos gemacht wird, so dass es keine Vergeltung üben kann – mit anderen Worten, es steht uns frei, ein Unrecht zu begehen, weil wir es tun können, ohne selbst bestraft zu werden. Jede realistische Betrachtung der Problems zeigt, dass eine Politik der Zerstückelung oder Aufsplitterung Deutschlands in großem Rahmen sich schädlich und möglicherweise äußerst unheilvoll auf eine dauerhafte europäische Friedensregelung auswirken muss.27.02.1945 George Russell Strauss, Parlamentsdebatte. Ebd., 212.

Letztlich überwogen allerdings die Stimmen, die sich für eine Abtrennung zumindest von Ostpreußen, Danzig und Oberschlesiens aussprachen… Dieser „Churchill-Stalin-Pakt“ ging als „Westverschiebung Polens“ in die Geschichtbücher ein. Um das Unrecht weniger verbrecherisch erscheinen zu lassen, wurde fortan der „polnische Charakter“ dieser Gebiete propagiert – entgegen der historischen Wahrheit, denn die Volksabstimmungen nach dem 1. Weltkrieg hatten genau das Gegenteil erwiesen.

Weiterführende Hinweise

Kein gutes Vorzeichen für Europa

Polnische Ostgebiete? – Teil 1

Polnische Ostgebiete? – Teil 2

Quellen

Quellen
1 Bildquelle: U.S. federal government. Gefunden auf Wikimedia Commons, Lizenz: Public Domain – abgerufen am 2.06.2009
2 Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939
3 Parliamentary Debates, House of Commons, Official Report, Bd. 408, Sp.1275-1280, Sp. 1298-1345, 1457-1458, 1500-1501, 1616-1660. In: Quellen zur Entstehung der Oder-Neisse-Linie (in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges), Gesammelt und herausgegeben von Gotthold Rhode und Wolfgang Wagner, Brentano-Verlag, Stuttgart 1956. 199 – 213.